Anonym, Der Besuch im Vaterhause


Wolfgang Hink

Anonym: Der Besuch im Vaterhause. Ein Gespräch zwischen einem Vater und seinem Sohne. (1848)


Dieser Text – ein Dialog zwischen einem Vater und seinem Sohn August über die Revolution – wurde 1848 von einer patriotischen Frauengesellschaft als Preisschrift ausgezeichnet, mit dem Ziel, dem „schädlichen politischen Wahne“ entgegenzuwirken und „politische Wahrheit“ zu fördern.  (Siehe auch die beiden ähnlich konzipierten Dialoge: [Anonym,] Die beiden Urwähler. Gespräch zwischen dem Dorfschmidt Johann Amboß und dem Maurer Thomas Kelle. Berlin  o. J. [1848];  Andreas Sommer: Sollen und Wollen der Zeit. Ein politisches Gespräch zwischen einem Vater, welcher der Zeit nicht huldigt, und seinem Sohn, welcher in der Zeit aufgegangen ist. (Zweite von einer Gesellschaft patriotischer Frauen gekrönte Preisschrift.) Berlin 1849.)

Die Handlung beginnt mit der Rückkehr Augusts, des Sohnes eines angesehenen Geschäftsmannes, in sein Elternhaus nach einem halben Jahr Abwesenheit. Sein Vater beginnt ein Gespräch über die Haltung seines Sohnes zur Revolution. 

Augusts Standpunkt ist von den revolutionären Ideen beeinflusst, die er außerhalb seines Elternhauses kennengelernt hat. Er ist davon überzeugt, dass die bestehenden Strukturen, insbesondere der Thron und die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen Reich und Arm, gestürzt werden müssen. Er glaubt an das Recht des Volkes, seine eigenen Führer zu wählen, und dass der „allmächtige Wille“ des Volkes die höchste Autorität darstellen sollte. Auch Gewalt könne ein legitimes Mittel sein, um Freiheit zu erlangen, wenn andere Mittel nicht ausreichten. Er stützt seine Vorstellungen von Gleichheit und Freiheit auf das Christentum. August sieht sich als Verkünder einer neuen Ära und glaubt, dass die Zeit für tiefgreifende Veränderungen gekommen ist. 

Der Vater steht den revolutionären Ideen seines Sohnes kritisch gegenüber und warnt vor den Gefahren unüberlegter Gewalt und dem Verlust der Ordnung. Er betont zwar die Bedeutung des Christentums, argumentiert jedoch mit Verweis auf die Bibel, dass wahre Freiheit nicht durch äußere Gewalt, sondern durch die innere Transformation des Menschen erreicht werde. Er kritisiert, dass August die Schrift seinen eigenen Meinungen anpasst, anstatt seine Meinungen an der Schrift zu orientieren. 

Das Volk sei auch nicht in der Lage, vernünftige Entscheidungen zu treffen und sich selbst zu regieren, denn es sei leicht beeinflussbar und unbeständig . Daher sei die starke und gerechte Führung durch einen Monarchen notwendig. Er mahnt seinen Sohn zur Besonnenheit, empfiehlt ihm den Gebrauch seiner Vernunft und warnt vor übereilten Handlungen, da die Menschheit nur zu allmählichen Fortschritten fähig sei. Es sei zunächst wichtiger, ein Volk für die Freiheit zu schaffen, als Freiheit für ein Volk. 

Im Laufe des Gesprächs werden zentrale Fragen diskutiert:

  • Was ist wahre Freiheit? Wird sie durch äußere Veränderungen oder innere Erneuerung erreicht?
  • Wer ist das Volk? Wie kann der wahre Volkswille ermittelt und umgesetzt werden?
  • Welche Rolle spielt Gewalt in der Revolution? Ist sie ein legitimes Mittel für politische Veränderungen?
  • Wie sollen politische Strukturen gestaltet sein? Ist eine starke Führung nötig, oder kann sich das Volk selbst regieren?
  • Welche Bedeutung hat das Christentum für die Gesellschaft? Wie sollen christliche Werte im politischen Handeln berücksichtigt werden?
  • Welche Rolle spielen Vernunft und Leidenschaft im politischen Handeln?

Der Vater beschließt das Gespräch mit einer Anspielung auf das Gleichnis vom verlorenen Sohn und bringt damit die Hoffnung auf die Umkehr seines Sohnes zum Ausdruck. Er möchte, dass August seine „Irrwege“ einsieht und zu seinen ursprünglichen Werten und Überzeugungen zurückkehrt. Die Anspielung ist eine Einladung an den Sohn, seine revolutionären Ideen zu überdenken und sich wieder mit dem Vater und desesn traditionellen Werten zu verbinden. (Siehe auch Ungern-Sternberg, Die Royalisten) 


Vertiefung: „Was wider die Schrift ist, ist auch wider die Vernunft“: Die Revolution und die Bibel.


Die Berufung auf die Bibel spielt eine zentrale Rolle in dem Gespräch. Der Konflikt entspringt nicht der Frage, ob die Bibel relevant ist, sondern wie sie zu interpretieren ist. 

August sieht die Bibel als Grundlage für seine revolutionären Ideen von Freiheit und Gleichheit. Er interpretiert die christliche Lehre als eine Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und dem Abbau von Hierarchien. Er glaubt, dass das Christentum die Gleichheit aller Menschen vor Gott lehrt und dass die bestehende soziale und politische Ordnung dieser Lehre widerspricht. August sieht sich selbst als ein Werkzeug Gottes, das dazu berufen ist, diese göttliche Ordnung durchzusetzen, notfalls auch mit Gewalt. 

Der Vater hingegen nutzt die Bibel, um seine konservative Weltsicht zu untermauern. Er betont, dass das Christentum nicht nur eine Lehre, sondern auch ein Vorbild für die Durchsetzung dieser Lehre sei. Er verweist auf Jesu Gehorsam gegenüber der weltlichen Obrigkeit bis zum Tod am Kreuz und zitiert Bibelstellen, die Gehorsam gegenüber Gott und dem König fordern. Die Bibel spreche von Pflichten und nicht von Rechten und betone die Gleichheit in Bezug auf den Glauben, aber nicht in Bezug auf irdische Hierarchien. 

Hier zeigt sich eine überraschende Inkonsistenz in der Haltung des Vaters. Er fordert von seinem Sohn eindringlich den Gebrauch seiner Vernunft und die Fähigkeit zum kritischen Denken, postuliert aber andererseits die „Heiligkeit“ und eine absolute Autorität des Königs, die sich jeder rationalen Kritik entzieht: „Ein Monarch mit starker Kraft, und heilig sei allem Volk seine Person“! (18) Der Sohn stellt eben genau dies in Frage: „Die Zeiten der Heiligkeit sind gewesen!“, sagt er. (ebda.) Der Vater scheint nicht zu erkennen, dass das Hinterfragen bestehender Autoritäten ein notwendiger Akt der Vernunft sein kann. 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Bibel in diesem Gespräch als Autorität für beide Seiten dient, jedoch auf völlig unterschiedliche Weise interpretiert wird. August sieht in ihr eine Aufforderung zum revolutionären Handeln und zur Umgestaltung der Gesellschaft, während der Vater sie als Legitimation für die bestehende Ordnung verwendet. Ein überzeugendes Beispiel dafür, wie religiöse Texte instrumentalisiert werden können, um unterschiedliche politische und soziale Agendas zu unterstützen. 


Anonym: Der Besuch im Vaterhause. Ein Gespräch zwischen einem Vater und seinem Sohne. Zur Zerstörung politischen Wahnes und zum Aufbaue politischer Wahrheit. Gekrönte Preisschrift!! Erste von einer Gesellschaft patriotischer Frauen gekrönte Preisschrift. 22 S. Berlin o.J. [1848]