Wolfgang Hink:
Ein unschuldiges Opfer der Revolution.
Zu Pröhles Erzählung »Eine vormärzliche Pensionärin«.
Die kleine Erzählung schildert das tragische Leben von Rauhkopf, einer Frau, die in Berlin durch die Wirren der Märzrevolution von 1848 ums Leben kommt. Der Erzähler kannte sie persönlich.
Die Geschichte beginnt am Morgen des 22. März 1848, als Bekannte den Erzähler an den Ort mitnehmen, wo die Leichen derer aufgebahrt sind, die während der Barrikadenkämpfe getötet wurden. Unter den Särgen fällt ihm ein besonders großer auf, von dem seine Begleiter annehmen, dass dort ein „Märzheld“ ruhen müsse. Der Leichenwächter jedoch deutet mit einem traurigen Kopfschütteln an, dass es sich um ein unschuldiges Opfer handelt. Als der Sarg geöffnet wird, erkennt der Erzähler zu seinem Entsetzen Rauhkopf, die Frau, die er einige Jahre zuvor als lebhafte und unterhaltsame Persönlichkeit in einer Gesellschaft erlebt hatte.
Seine Begleiter drängen ihn, von Rauhkopf zu erzählen. Er erinnert sich an den Fastnachtstag des Jahres 1847, als er bei einem Besuch in Berlin unerwartet in die Wohnung eines Publizisten eingeladen wurde. Dort traf er auf Rauhkopf und ihre beiden Töchter. Die stattliche ältere Dame beeindruckte ihn durch ihre ungewöhnliche Persönlichkeit, ihre leidenschaftlichen Augen und ihre raue und unordentliche Frisur.
Rauhkopf hatte das Haus an diesem Abend eher zufällig betreten, sie wurde mit ihren Töchtern jedoch eingeladen, zu bleiben. Die Anwesenden zeigten großen Respekt vor ihr und der Gastgeber weckte mit seinen Anspielungen auf ihre Lebensgeschichte die Neugier des Erzählers. Nach ihrem Weggang erfuhr er mehr über ihr Leben.
Rauhkopf war die Tochter eines Kochs bei Friedrich Wilhelm III., als Kind konnte sie daher ausgelassen im Berliner Schloss spielen. Der spätere König Friedrich Wilhelm IV. nannte sie wegen ihrer unordentlichen Haare „Rauhkopf“. Später heiratete sie einen reichen Geschäftsmann, der ihr in ihrem Haus in Tiergarten ein luxuriöses, gesellschaftliches Leben ermöglichte.
Kurz darauf erhielt sie jedoch die Nachricht, dass das Geschäft ihres Mannes bankrottgegangen war. Die Familie zog in eine bescheidene Wohnung, ihre einstigen Freunde und Bekannten wandten sich von ihr ab, ihr Vermögen schwand und ihr Mann wurde krank. In ihrer Not schrieb Rauhkopf einen Brief an den König Friedrich Wilhelm IV., in dem sie ihn an ihre gemeinsamen Jugendspiele erinnerte und ihn bat, sie zu seinem „königlichen Oberhofrauhkopf“ (32) zu ernennen. Der König gewährte ihr daraufhin eine kleine Pension, von der sie mit ihrem Mann und ihren Töchtern lebte.
Während der Straßenkämpfe im März 1848 machte sich Rauhkopf heimlich auf den Weg, um ihren greisen Vater, den Mundkoch des verstorbenen Königs, zu besuchen. Auf dem Weg dorthin wurde sie von einer Gewehrsalve getroffen und starb vor dem Haus ihres Vaters.
Der Erzähler schließt mit einer Grabschrift für Rauhkopf. Er bezeichnet sie als ein „prächtiges Stück vom vormärzlichen Berlin“ (34), die ein „Jugendgespiele des Königs“ (ebd.) war und nach einer kurzen Zeit des Glücks und der Freude als „unschuldiges Opfer der Fehde zwischen Fürst und Volk“ (ebd.) starb.
Vertiefung: Ein unschuldiges Opfer der Revolution
Der Erzähler zeigt tiefes Mitgefühl für Rauhkopf und ist entsetzt, als er sie unter den aufgebahrten Toten erkennt. Er empfindet ihr Schicksal als besonders tragisch, da sie als „vollkommen schuldlose[s] Opfer der Revolution“ (24) gestorben ist. Seine Anteilnahme lässt erkennen, dass er die Revolution nicht nur als politisches Ereignis, sondern auch als eine Quelle des menschlichen Leids wahrnimmt. Das impliziert seine Kritik an der Gewalt und den sinnlosen Verlusten der Revolution.
Die Revolution selbst, die politische Orientierung Rauhkopfs, ihre Sicht auf die Revolution, die konkreten Hintergründe ihres Todes interessieren ihn kaum. Auch nach Verantwortlichen oder Schuldigen fragt er nicht. Es war eine Gewehrsalve von Soldaten, mehr erfahren wir nicht.
Er konzentriert sich auf die persönliche Geschichte Rauhkopfs, stellt ihre Individualität und ihre Person in den Vordergrund und verweist darauf, dass sie eine beeindruckende Frau mit einer ungewöhnlichen Lebensgeschichte gewesen sei, die durch ihre „glänzende Coquetterie“ (30) und ihren „bachantischen Frohsinn“ (ebd.) beeindruckte. Sie verkörperte für ihn das Lebensgefühl im vormärzlichen Berlin, ihr Tod ist in seinen Augen auch ein Verlust für die Gesellschaft und signalisiert das Ende einer Epoche: „Ihr ist wohl, daß sie die vormärzliche Zeit nicht überlebte.“ (34)
Heinrich Pröhle, Eine vormärzliche Pensionärin. Erzählung. In: H. P., Berlin und Wien. Ein Skizzenbuch. Berlin 1850. S. 23–34.
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